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11. November 2024 16 Minuten

So. Doof.

Liebe Leserin, lieber Leser,

in diesem Newsletter versuchen wir Woche für Woche die wichtigsten politischen Ereignisse zu kontextualisieren, Hintergründe aus dem Maschinenraum des Politikbetriebs, Kommunikationsperspektiven und Nerd-Notizen zu liefern, die sie nicht auf den Titelseiten finden. Und das seit nun mehr gut 15 Jahren.

Doch so eine Woche wie die letzte gab es in dieser ganzen Zeit wohl noch nicht. Daher sehen Sie uns die bisher vielleicht längste politnews-Ausgabebitte nach.

Als sich Deutschland und die Welt noch in Schock, Unglaube – teilweise aber auch Jubel – über den Wahlsieg von Donald Trump befanden, brach am Mittwochabend die Bundesregierung zusammen. Der Streit über Wirtschaftspolitik und Haushalt veranlasste Olaf Scholz zum historischen Satz: „Dann, lieber Christian, möchte ich nicht mehr, dass Du meinem Kabinett angehörst!” Um nach einem Moment der Stille „So. Doof.“ anzufügen.

Nach der Entlassung des FDP-Finanzministers reichten die restlichen liberalen Minister:innen ihren Rücktritt ein – bis auf einen. Volker Wissing trat stattdessen aus der FDP aus und ist nun auch Justizminister. Seine Staatssekretär:innen sprachen von Verrat und kündigten. Deren Amtskollegen im BMF sortierte der Lindner-Nachfolger Jörg Kukies erstmal aus. Auch Michael Link, Koordinator für die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit im Auswärtigen Amt, legt sein Amt nieder – zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt. Cem Özdemir übernimmt für die nächsten Monate das Bildungsressort. Damit Sie im Bilde bleiben, zeigt die NOZ das aktuelle Kabinett als Galerie.

  • Eine beeindruckend genaue Rekonstruktion des Koalitionsendes hat der SPIEGEL (€). Zudem bietet er eine “Chronik der Streithähne” als Überblick über die zentralen Ampel-Streitpunkte.
  • Die internationale Presseschau gibt es beim Tagesspiegel.
  • Den Lindner-Nachfolger Jörg Kukies porträtiert die Tagesschau.
  • Den Kampf um die Deutungshoheit zwischen den Parteien erläutert Thorsten Faas bei der Tagesschau.
  • Für diese ist Rhetorik entscheidend: Die Reden zum Ende der Koalition analysiert Matern von Boeselager beim Spiegel (€).
  • Sowohl SPD, Grüne als auch FDP konnten in den Tagen nach dem Koalitionsbruch Neueintritte im dreistelligen Bereich verzeichnen.
  • Die BILD schwang sich nach dem Ampel-Crash einmal mehr zum FDP-Verlautbarungsorgan auf (erinnert sei an “Please stärke die FDP”). Medienjournalist Matthias Daniel hat die schönsten Beispiele, Campaigner René Engel weiß, warum insbesondere Volker Wissing eine Persona non grata ist.
  • Auch in der Desinformationssphäre waren das Ampel-Aus und die Neuwahlen zentrale Themen wie unsere Kurzanalyse zeigt.
  • Warum die drei entlassenen FDP-Minister:innen nun keinen Pensionsanspruch haben, erklärt der Spiegel. Finanzielle Sorgen dürften dennoch nicht entstehen, konstatiert der Tagesspiegel mit Verweis auf das sogenannte Übergangsgeld.

 

Neben Personalwechseln, dem Streit um die nächsten Schritte und Erleichterung produzierte das Ampel-Aus auch viele Randnotizen:

  • Die FDP kaperte die Internetseite von Wissing – und warbauf diesem Weg um neue Parteimitglieder
  • Elon Musk greift Scholz an, der nimmt das “mal gar nicht zur Kenntnis”. Auch Robert Habeck war Ziel der einfallslosen Beschimpfungen des potenziellen neuen US-Ministers auf X.
  • Habeck selbst ist nach fünf Jahren zurück auf X/Twitter. Per Video verkündete er dort seine Spitzenkandidatur, Kanzlerkandidat möchte er sich aber nicht nennen. Ärger mit Herbert Grönemeyer gab es auch noch
  • Eine Sammlung der besten Memes zum Ampel-Aus hat der WDRkuratiert.
  • Gegen einen derart locker-humorvollen Umgang mit dem Koalitionsbruch argumentiert dagegen Johannes Altmeyer beim Tagesspiegel: Gerade Politiker:innen sollten die aktuelle Krise auch gebührend ernst kommunizieren
  • Unterdessen freuen sich die Marketingabteilungen: So macht die BVG etwa ein Jobangebot an die FDP-Minister:innen und LIDL hat den Namen des neuen Finanzministers entdeckt.
  • Lindners Abschiedsbrief an seine Mitarbeiter:innen bietet Table.Mediaim Volltext.
  • Welche Kritik der ehemalige FDP-Kampagnenchef Labonté nun an Lindner äußert, weiß der Spiegel.
  • Marco Buschmann – politnews-Leser:innen wissen das – hat eine Zweitkarriere als DJ. Nun droppte er seinen persönlichen Soundtrack zum Ampel-Aus.

Die zentrale Frage lautet nun: Wann sollen die Neuwahlen stattfinden? Der Bundeskanzler möchte die Vertrauensfrage eigentlich im Januar und Neuwahlen im März. Gestern revidierte er das etwas und ist nun auch für eine Vertrauensfrage vor Weihnachten bereit. Außerhalb der SPD wollen zudem fast alle schnellere Wahlen. Nun versucht Scholz einen Kompromiss zu finden.

  • Was spricht für, was gegen frühere Neuwahlen? Die zentralen Argumente hat die Rheinische Postgesammelt.
  • Die wichtigsten Fragen und Antworten zur Vertrauensfrage und vorgezogenen Neuwahlen bietet der Spiegel.
  • Die genaue Bedeutung der Vertrauensfrage erklärt der Spiegelim Video.
  • Eine Chronologie der bisherigen Vertrauensfragen im Bundestag gibt es beim NDR. Dazu passend bietet der Spiegel(€) ein Best-Of der bundesdeutschen Koalitionsstreits.
  • Der Winterwahlkampf wäre kein Zustand auf Dauer, wie Markus Wojahn mit einem Blick in die Wahlhistoriezeigt. Obwohl man aus diesem Legislatur für Legislatur herauskommen könnte, siehe Grafik.
  • Die Bundeswahlleiterin meldete Bedenken bezüglich einer schnellen Neuwahl an, unter anderem sei zu wenig Papier eine Herausfoderung. Daraufhin meldete sich nicht nur die deutsche Papierindustrie zu Wort, sondern auch unsere polnischen Nachbarn mit netten Hilfsangeboten. Die Union will sie nun vor den Innenausschuss laden, weil sie Einflussnahme wittert.
  • Für mögliche organisatorische Probleme bei Wahlen wird gern auf das Land Berlin verwiesen. Wie sich die Hauptstadt auf die fünfte große Abstimmung innerhalb von zwei Jahren vorbereitet, zeigt der Tagesspiegel.

Kein unwesentlicher Punkt beim Streit um den Termin für Neuwahlen: Am 20. Januar übernimmt Donald Trump nach seinem überraschend deutlichen Wahlsieg wieder das Ruder im Weißen Haus. Je länger Deutschland in dieser Phase mehr oder weniger handlungsunfähig ist, desto riskanter, so ein häufiges Argument. Trump steht politisch so stark wie nie zuvor da: Seit Bush 2004 konnte kein Republikaner mehr den Popular Vote bei der Präsidentschaftswahlgewinnen. Trump holte ebenso alle sieben Swing States. So wird der vorbestrafte Trump für die nächsten vier Jahre erneut der mächtigste Mann der Welt. Diesmal unterstützt vom reichsten Mann der Welt, Elon Musk.

  • Die Wahlkampfstrategien beider Parteien analysiert Katrin Brand bei der ARD.
  • Wie es nach der Wahl bis zu Trumps Amtseinführung zeitlich weitergeht, erklärt die Tagesschau.
  • Welche 41 Maßnahmen Trump am ersten Tag umsetzen will, hat die Washington Post bereits im September zusammengefasst. Einen umfassenderen Blick auf Trumps Pläne sowie die Rolle des “Project 2025” wirft das ZDF.
  • Seine Wahlkampfberaterin Susan Wiles wird als erste Frau überhaupt neue Stabschefin im Weißen Haus. Porträtiert wird sie beim ZDF.
  • Über das zukünftige Regierungsteam macht sich der Spiegel Gedanken. Der ehemalige Außenminister Mike Pompeo sowie Ex-Botschafterin Nikki Haley werden wohl nicht dabei sein, gab Trump auf seiner Plattform Truth Social bekannt.
  • Die Möglichkeiten für die Schlüsselpositionen im außenpolitischen Bereich kennt der Tagesspiegel.
  • Mit rund 70 Staats- und Regierungschefs hat Trump eigenen Angaben zufolge seit seiner Wahl telefoniert. Darunter war auch der ukrainische Präsident Selenskyj – wobei auch Tech-Milliardär Musk zugeschaltet war.
  • Trumps Verbindungen nach Russlandbeleuchtet unser Buch der Woche.
  • Welches Spitzenamt nun auf Kamala Harris warten könnte, weiß die Berliner Morgenpost.
  • Die Gründe für ihre Niederlage listet das ZDF auf.
  • Den Demokraten wurden drei Fehleinschätzungen zum Verhängnis, argumentiert Bret Stephens beim IPG Journal.
  • Nun soll sogar Taylor Swift schuld sein: Die Endorsements von US-Popstars hätten zu einer Entfremdung der Demokraten von Arbeiter:innen geführt, so das Nachrichtenportal The Hill.

Der Umstand, dass das BSW die Sondierungen in Sachsen hat platzen lassen, ging angesichts dieser Nachrichtenlage fast unter. Die neue politische Kraft, ohne die in weiten Teilen Ostdeutschlands nichts geht oder nichts gehen wird, lässt die Muskeln spielen und offenbart eine gewisse Hilflosigkeit unter den restlichen politischen Kräften bis auf die AfD.

  • Woran die Sondierungen scheiterten, fasst die Tagesschau zusammen.
  • CDU und SPD beraten in Sachsen nun über eine Minderheitsregierung. Details kennt der Tagesspiegel.
  • In Thüringen und Brandenburg wird unterdessen weiter mit dem BSW verhandelt, berichtet die Tagesschau.

Geschichte wurde in den vergangenen Tagen nicht nur geschrieben, der 9. November diente auch der Erinnerung an den Mauerfall 1989 und die Novemberpogrome 1938. Wie die Ministerpräsident:innen Günther, Schwesig und Kretschmann den Mauerfall erlebten, schildern sie beim Tagesspiegel (€). Die neue Antisemitismus-Resolution ging im Bundestag trotz Regierungsbruch durch.

 

Wahltrend

Der pollytix-Wahltrend zur Sonntagsfrage, Vorwochenvergleich in gefärbten Zahlen. Die Angaben berechnen sich aus dem gewichteten Mittel aller Sonntagsfragen der letzten 20 Tage. Den kompletten Wahltrend und alle Einzelumfragen finden Sie hier, mehr zur Methodologie hier.

 

Buch der Woche

Ungefiltert

von Christoph Steele

Europa steht angesichts von Trumps Wahlsieg erneut vor der drängenden Frage, wie es seine Sicherheit eigentlich organisieren will, falls die USA ihr Engagement auf dem Kontinent zurückfahren. Besonders Trumps Verhältnis zu Putin bietet dabei viel Raum für Spekulationen. Dass dieses Verhältnis keines der üblichen zwischen Präsidenten ist, zeigt das Buchvon Christopher Steele. Der ehemalige britische Geheimdienstmitarbeiter und Autor des 2017 bekannt gewordenen Trump-Russland-Dossiers warnt darin eindringlich vor der Bedrohung der Demokratie durch Putin und Trump. Dazu fasst er bekannte Berichte, aber auch neue Geheimdienstinformationen über die Kontakte von Trump und seinem Umfeld nach Russland zusammen, beschreibt die Methoden des russischen Geheimdienstes und widmet sich der Rolle der sozialen Medien. Am Ende steht die brisante Einschätzung, dass Putin mit hoher Wahrscheinlichkeit kompromittierendes Material über den erneut gewählten US-Präsidenten besitzt.

Weitere Buchempfehlungen finden Sie auf www.politbooks.de.

 

Social-Media-Fundstück

Männer, die an Schreibtischen sitzen – @c_lindner

Die Rückkehr von Robert Habeck auf X inklusive Schreibtisch-Video ließ Christian Lindner nach dem Ampel-Aus nicht unkommentiert. Und auch ein falscher Karl Lauterbach wollte da nicht hinten anstehen bzw. sitzen.

Mit den besten Grüßen zum Wochenstart

Philipp Sälhoff

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