Ein Parlament am Limit

Liebe Leserin, lieber Leser,
wo soll man nach so einer Woche anfangen?
Am Ende einer denkwürdigen Sitzungswoche, die es mit Tränen über Wutreden bis hin zu persönlichen Angriffen nicht nur emotional in sich hatte, scheiterte die Union am Ende mit 12 fehlenden Stimmen, daran ihr “Zustrombegrenzungsgesetz” (Bundestagsdrucksache) durchzubringen. Die Unterstützung von AfD und BSW reichte nicht, da zwölf Abgeordnete aus der eigenen Fraktion und 23 aus der FDP in der ein oder anderen Form nicht mitstimmten. Diese hohe “Abweichler-Quote” ist für die Union sehr unüblich und sorgte dafür, dass es nicht zum ersten Gesetz mit den Stimmen der AfD kam. Danach machten sich FDP und Union gegenseitig Vorwürfe, wer für das Scheitern bei der Abstimmung verantwortlich ist. Wolfgang Kubicki ging mit seiner Fraktion in seiner ganz eigenen Weise ins Gericht, wie unser Fundstück zeigt.
Dem Gesetzesentwurf ging am Mittwoch der erste Bruch der bisherigen Praxis voraus: Zusammen mit der AfD stimmten Union und FDP mit knapper Mehrheit für einen Entschließungsantrag der Zurückweisungen an deutschen Grenzen fordert. Die erste Bundestagsmehrheit mit der extremen Rechte in der Geschichte der Bundesrepublik.
Das Vorgehen der Spitzen von CDU und CSU rief nicht nur Angela Merkel auf den Plan, die in gewohnt pointierter Manier ihren Nachfolger kritisierte. Auch Daniel Günther und Kai Wegner kündigten an, im Bundesrat keinen Gesetzen zuzustimmen, die mit den Stimmen der AfD beschlossen werden. Auch wenn die Mehrheit der Unions-Mitglieder und Wähler:innen das Vorgehen befürworten: Drei Wochen vor der Wahl hat die Brandmauer-Debatte die Partei und auch den heutigen Parteitag (im Livestream) fest im Griff. Und das bei einem bisher recht komfortablen Vorsprung in den Umfragen.
- Die entscheidenden Szenen der Bundestagssitzung am Freitag fasst der Spiegel im Video zusammen.
- In einer Chronik zeigt er außerdem, wie sich Merz‘ Aussagen zur AfD entwickelt haben – vom klaren Nein zu einer Zusammenarbeit bis zur aktuellen Rechtfertigung einer “richtigen Entscheidung”.
- Wie die einzelnen Fraktionen und Abgeordneten abgestimmt haben, lässt sich beim Bundestag zum Entschließungsantrag und Zustrombegrenzungsgesetz nachvollziehen.
- Die Lage der CDU vor ihrem heutigen Parteitag erläutert die Tagesschau.
- Was eine exklusive Party von Armin Laschet am Vorabend mit den Vorgängen zu tun hat, erklärt die FR.
- Von den Abweichlern bei der Union war nicht viel zu hören. Nur die ehemalige Kulturstaatsministerin Monika Grütters äußerte sich deutlich. Bei der FDP übernahm die Braunschweiger Bundestagsabgeordnete Anikó Glogowski-Merten diesen Part. Antje Tillmann war am Mittwoch die einzige Nein-Stimme bei der Union.
- Wegen Merz‘ Kurs trat Michel Friedman nach 40 Jahren aus der CDU aus. Prominente Kritik von Kulturschaffenden gab es zudem in einem offenen Brief bei der Vogue.
- Eine weitere Folge sind Proteste und Demonstrationen im ganzen Land: Bis zu 200.000 Menschen versammelten sich gestern vor dem Reichstag.
- Friedlicher Protest ist nachvollziehbar, physische Übergriffe sind es nicht: Einige CDU-Geschäftsstellen und Büros wurde dennoch im ganzen Land besetzt und angegriffen.
Die AfD gefällt sich hingegen gut in der neuen Rolle der Mehrheitsbeschafferin. Für Schlagzeilen sorgen außerdem die Großspenden an die Partei: Während eine Millionenspende womöglich zurückgefordert wird, erhielten die Rechtsnationalen nun eine Plakatspende im Wert von 2,3 Millionen Euro aus Österreich von einem ehemaligen FPÖ-Funktionär. Derweil hat sich die Junge Alternative endgültig aufgelöst – eine neue Organisation soll folgen. Ein ähnliches Schicksal soll nach dem Willen einiger MdB auch die Mutterpartei ereilen. Ob die Partei jetzt noch verboten werden kann, hat Eva Ricarda Lautsch für die Zeit analysiert. Um dieses Ziel zu unterstützen, sammeln zivilgesellschaftliche Organisationen um die GFF nun selbst entsprechendes Material über die Partei.
Bei den Grünen wirft der Fall Stefan Gelbhaar weiterhin Fragen auf. Gelbhaar lehnte nun eine Entschuldigung des RBB ab und äußerte sich ausführlicher zu den restlichen Anschuldigungen. Die von der Partei eingesetzte Kommission hat ihre Arbeit bisher noch nicht aufgenommen.
Auch ein anderer Vorfall um eine Bundestagsabgeordnete bekam eine unerwartete Wendung: Die Linken-Abgeordnete Gökay Akbulut soll laut einem internen Polizeibericht selbst die Auseinandersetzung mit Stuttgart-Fußballfans angezettelt haben, bei der sie verletzt wurde. Weitere Meldungen aus und um den Wahlkampf:
- Dröge gegen Mützenich, Scholz gegen Baerbock, Wiese gegen Merz: Die prominentesten Rennen um Direktmandate hat die Bild zusammengestellt.
- Berlin möchte mit einer Bundesratsinitiative Wahlkämpfer:innen besser schützen, wie der RBB berichtet.
- Wer auf den Start des Wahl-O-Mat am 6. Februar nicht warten möchte: Mit dem Real-O-Mat lässt sich das tatsächliche Abstimmungsverhalten der Parteien mit den eigenen Positionen abgleichen.
- Direkte Fragen zur Wahl und an die Parteien kann man per KI-Assistent bei wahl.chat stellen.
- Wie die Briefwahl von der Ausnahme zum Normalfall wird, beleuchtet der Tagesspiegel.
- Die gesellschaftliche Stimmung vor der Wahl untersucht eine tiefenpsychologische Studie des rheingold Institut.
- Ein „Stresstest“ gegen Wahlbeeinflussung lief für die Social-Media-Plattformen wohl ganz gut, berichtet heise.de.
- Sehr gestresst ist Christian Lindner anscheinend von den Grünen: Nun will er die zukünftige Zusammenarbeit in einer Bundesregierung per Parteitagsentscheid ausschließen.
- Der Bundeswahlausschuss hat über die endgültige Zulassung der Parteien entschieden und nur die MLPD hatte mit ihrer Beschwerde Erfolg.
- Das BSW wird definitiv auf den Wahlzettel stehen. Nach der Bundestagswahl aber mit anderer Bedeutung.
- Mit der bisherigen Namensgeberin setzt sich unser Buch der Woche auseinander.
Eine Panne in der Wahlvorbereitung gab es nun aber schon mal in Hamburg. Dafür ist der Wahl-O-Mat für die erste Landtagswahl des Jahres, in der Peter Tschentscher eine der letzten SPD-Hochburgen verteidigen will, online.
Sein Vorgänger Olaf Scholz war derweil nun auch im “Alles gesagt”-Podcast zu Gast. Kurz zuvor hatte Friedrich Merz bereits die Ehre – und fasste sich deutlich kürzer als der Amtsinhaber. Seine Frau Charlotte meldete sich ebenfalls zu Wort und sprach über Ehe und Frauenbild des Kanzlerkandidaten.
Abschied nehmen musste die Bundesrepublik von Horst Köhler. Über den unbequemen Bundespräsidenten schreibt Wolfram Neidhard im Nachruf bei ntv. Das Wirken Köhlers lassen der Spiegel in Bildern und wir mit dem Stakeholder der Woche Revue passieren. Auch der CDU-Bundestagsabgeordnete Erwin Rüddel ist verstorben, wie der SWR berichtet.
Mit den besten Grüßen zum Wochenstart
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Politische Kommunikation
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- Merz-Rhetorik: CDU-Kanzlerkandidat spielt Rechtsextremen in die Hände
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Wahltrend
Der pollytix-Wahltrend zur Sonntagsfrage, Vorwochenvergleich in gefärbten Zahlen. Die Angaben berechnen sich aus dem gewichteten Mittel aller Sonntagsfragen der letzten 20 Tage. Den kompletten Wahltrend und alle Einzelumfragen finden Sie hier, mehr zur Methodologie hier.